Anpassung und Widerstand: Kirche im Totalitarismus
18.10.2024
Die Rolle der evangelischen Kirchen in der NS-Zeit und in der DDR sind wichtige Forschungsthemen des Kirchenhistorikers Christopher Spehr.
18.10.2024
Die Rolle der evangelischen Kirchen in der NS-Zeit und in der DDR sind wichtige Forschungsthemen des Kirchenhistorikers Christopher Spehr.
Die Erinnerungskultur sowie die Aufarbeitung der Geschichte der evangelischen Kirchen im Nationalsozialismus und in der DDR – das sind zentrale Forschungsschwerpunkte von Professor Christopher Spehr. Der Kirchenhistoriker hat seit Oktober vergangenen Jahres den Lehrstuhl für Kirchengeschichte an der Evangelisch-Theologischen Fakultät inne.
Vor allem die Verstrickung von Teilen der Kirche in die nationalsozialistische Ideologie steht dabei im Fokus seiner Arbeit. Ein Beispiel hierfür ist das Eisenacher „Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“, auch „Entjudungsinstitut“ genannt, über das Spehr bereits 2021 mit seinem Vorgänger an der LMU, Professor Harry Oelke, einen Tagungsband veröffentlicht hat.
Das pseudowissenschaftliche Institut, das 1939 von mehreren evangelischen Landeskirchen ins Leben gerufen worden war, hatte in streng antisemitischer Weise versucht, alles Jüdische aus dem christlichen Leben zu tilgen – sei es durch Streichung von Personennamen wie Abraham aus der Bibel oder durch eine entsprechende Anpassung von Kirchenliedern und Gottesdiensten. „Wörter wie Hosianna oder Hallelujah wurden entfernt, auch die Weihnachtsgeschichte wurde verändert“, so Spehr. „Selbst eine Kompilation des Neuen Testaments legten die Theologen unter dem Titel ‚Die Botschaft Gottes‘ vor. Ebenfalls das deutsch-christliche Gesangbuch ‚Großer Gott wir loben dich‘. Zum Glück setzten sich die Texte nicht durch. 1945 war der Spuk dann vorbei“, erläutert der Theologe.
Weiterhin interessieren Christopher Spehr, der kürzlich zum Vorsitzenden der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte der EKD gewählt wurde, die Wege der sogenannten „Deutschen Christen“ nach 1945. Seit 1932 trat diese kirchenpolitische, keineswegs einheitliche Strömung innerhalb der Evangelischen Kirche auf, die eine dem NS-Regime ideologisch entsprechende antisemitische, völkisch-nationalistische Linie verkörperte. Sie kämpfte für die Einführung des „Führerprinzips“ in der Kirche und eine einheitliche Reichskirche.
Auch forderten die „Deutschen Christen“ unter anderem die Abschaffung des Alten Testaments und eine „judenreine“ Theologie. Ihr massives Auftreten, sagt Christopher Spehr, führte ab 1933 zum sogenannten „Kirchenkampf“ – einer Auseinandersetzung zwischen den „Deutschen Christen“ und der sich bildenden Bekennenden Kirche, die sich von den „Deutschen Christen“ und den unrechtmäßigen Eingriffen des NS-Staats in den Raum der Kirche abgrenzen wollte. Auf lange Sicht gesehen konnte sich die besonders in der „Barmer Theologischen Erklärung“ von 1934 formulierte Position der Bekennenden Kirche in dem Konflikt zwar durchsetzen, aber: „Die Spannungen, die aus diesem Konflikt resultierten, haben bis weit über die Nachkriegszeit hinaus angehalten“, konstatiert Spehr. „Mich interessiert dabei, wie ehemalige „Deutsche Christen“ die evangelischen Kirchen beeinflusst haben und wie diese vor allem auch nach 1945 damit umgegangen sind.“
Worte wie Hosianna oder Hallelujah wurden entfernt, auch die Weihnachtsgeschichte wurde verändert.Christopher Spehr
An der LMU freut sich Christopher Spehr darauf, neben der Leitung der Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte mit ihrer Forschungsstelle in der Evangelisch-Theologischen Fakultät auch mit Institutionen wie dem NS-Dokumentationszentrum und dem Institut für Zeitgeschichte zusammenzuarbeiten. „Gerade zur wissenschaftlichen Bearbeitung meines Themenfelds ist München eine ideale Adresse“, sagt Christopher Spehr.
Mit seinem Wechsel von der Friedrich-Schiller-Universität Jena an die LMU hat Christopher Spehr gewissermaßen einen Brückenschlag im historischen Sinn vollzogen: von der Hohen Schule der Reformation an die Hohe Schule altkirchlicher, katholischer Prägung. Der international renommierte Lutherforscher ist damit an die Universität von Johannes Eck gekommen – einem Hauptgegner des Wittenberger Reformators Martin Luther.
Aber es gebe auch andere historische Bezüge zwischen dem ostdeutschen Raum und Bayern, betont Spehr. „König Ludwig II. von Bayern wollte die Wartburg zum architektonischen Vorbild für Schloss Neuschwanstein nehmen, konnte dann aber aufgrund des fehlenden Platzes auf dem Felsen nur den Festsaal nachbilden“, betont er. Auch in Sachen Reformation habe der bayerische Raum einiges zu bieten: Insbesondere Augsburg als Ort der Reichstage und der Einigungsbemühungen von reformatorischen und katholischen Lagern ist von bleibender Bedeutung. Die Überreichung des lutherischen Bekenntnisses, der „Confessio Augustana“, 1530 oder der Augsburger Religionsfrieden 1555 bieten Raum für neue Forschungsprojekte und -ansätze.
Die Kirchengeschichte der DDR bleibt auch in München prägend für seine Forschung, nicht nur, was das spannungsreiche Verhältnis von Kirchen und Religionsgemeinschaften mit dem SED-Staat betrifft. „Besonders die Militarisierung und Wehrerziehung in der DDR interessieren mich und wie hierauf die Christen und Kirchen reagierten – dies besonders vor dem Hintergrund der Einführung der Wehrpflicht Anfang der 1960er-Jahre“, erläutert Spehr, der insgesamt vier Bände zur „Diskriminierung von Christen in der DDR“ sukzessive herausgibt.
Denn wie in der Bundesrepublik Deutschland gab es auch in der DDR junge Leute, die den Dienst im Militär aus christlich-pazifistischen Gründen ablehnten und verweigerten. „So etwas wie ein Zivildienst, dessen Anerkennung in der Bundesrepublik erst erkämpft werden musste, kam für die DDR-Führung aus ideologischen Gründen aber nicht infrage“, sagt Christopher Spehr.
Weil die Anzahl der Verweigerer und damit die Notwendigkeit, sie in militärische Strukturen einzubinden, gewachsen sei, wurde 1964 der waffenlose Wehrdienst in der NVA eingeführt. Die sogenannten Bausoldaten hatten Schwerstarbeit zu leisten und mussten vielfältige Diskriminierungen über sich ergehen lassen.
„Da sich die Bausoldaten häufig aus christlichen Kreisen rekrutierten, ermöglichte die SED-Staatsführung mit diesen Einheiten ungewollt Netzwerke, über die sich die regimekritischen Zeitgenossen kennenlernten und auch über den Militärdienst hinaus Kontakt hielten. Mit den Bausoldaten hat man gleichsam eine ‚Schule der Demokratie‘ geschaffen.“
Mit den Bausoldaten hat man gleichsam eine ‚Schule der Demokratie‘ geschaffen.Christopher Spehr
Liegt der thematische Schwerpunkt von Spehrs Forschung augenblicklich vor allem auf der jüngeren Geschichte, spannt er als Kirchenhistoriker aber auch den großen Bogen von der Reformation über die Aufklärung bis hin in die neueste Geschichte.
„Die Kirchengeschichte besteht aus einzelnen Mosaiksteinen, die sich durch Querschnittsthemen zu einem Gesamtbild formen“, erklärt er. Eine Möglichkeit, sich diesem Gesamtbild anzunähern, erlaube etwa die epochenübergreifende Untersuchung, wie der christliche Glaube vermittelt wurde. „Da spielt der Aspekt der Medialität eine wichtige Rolle, sie kann gleichsam als ein ‚roter Faden‘ gedeutet werden.“
Konkret werde dies neben den verschriftlichten Predigten, Liedern und anderen Quellentexten vor allem an Druckwerken – beispielsweise von Einblattdrucken aus der Reformationszeit über Zeitschriften und Rezensionsorgane aus der Aufklärungszeit bis hin zu (Kirchen-)Zeitungen im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Im Zeitalter der Massenmedien kommen in vielfältiger Weise Rundfunk, Fernsehen und jüngst Internet sowie Social Media hinzu.
Christopher Spehr möchte diese Inhalte und Themen auch in der Lehre behandeln und sie durch Veranstaltungen, Exkursionen zu historischen Stätten oder auch die Entwicklung von Ausstellungen vermitteln. „Ich erlebe in München viele hoch motivierte Studierende“, freut er sich.
Spehr, der seit 2013 mit dem Lutherjahrbuch eine wichtige internationale Peer-Review-Publikation zur aktuellen Lutherforschung herausgibt, schätzt die Arbeitsbedingungen in München. „Das Kollegium und die Fakultät sind hervorragend und bieten mit der Forschungsstelle für Kirchliche Zeitgeschichte sehr gute Arbeitsbedingungen für meine Themen und meine Herausgabetätigkeiten“, betont Spehr.
Zudem schätzt er, dass neben der Evangelischen Theologie auch die Katholische und die Orthodoxe Theologie an der LMU vertreten sind. „Drei Theologien an einem Standort – das ist einzigartig in Deutschland und bietet exzellente Kooperationsmöglichkeiten.“